Der Frühling 2022 hielt Einzug – und mit ihm wurden die Beschränkungen aufgrund der Pandemie in Deutschland endlich gelockert. Für die Lindauer Psychotherapiewochen (LP), die seit Jahrzehnten traditionell an Ostern am Bodensee stattfinden, sozusagen perfektes Timing. Dennoch war auch dieses Jahr ein außergewöhnliches für die Verantwortlichen. „Der hybride Charakter solcher Veranstaltungen wird bleiben“, sagt Prof. Dr. Peter Henningsen im Interview, der dem Leitungsgremium seit vielen Jahren angehört.

Herr Prof. Dr. Henningsen, wir sprechen zu einem Zeitpunkt miteinander, an dem die LP 2022 gerade erst hinter Ihnen liegen. Wie war’s?

„Die zwei Wochen sind erfreulich gut verlaufen. Wir konnten sogar noch kurzfristig von den Lockerungen profitieren und die Zahl der Teilnehmenden vor Ort auf 600 erhöhen – fast doppelt so viele als zunächst gedacht. Hinzu kamen an die 1.000 Teilnehmende online.“

2020 mussten die LP ganz abgesagt werden. Im letzten Jahr fand die Veranstaltung rein online statt. Nun das sogenannte Hybrid-Format. Wie kamen Sie mit diesen jährlichen Veränderungen zurecht?

„Wir alle mussten in den letzten Jahren damit leben, dass persönliche Kontakte eingeschränkt waren. Und wir mussten zu großen Teilen lernen, auf Videokonferenzen und digitale Alternativen umzusteigen. Die Absage 2020 konnten wir auffangen, da wir in der Vergangenheit solide wirtschaftliche Rücklagen bilden konnten. Und die reine Onlinevariante 2021 hatte insofern einen Vorteil, als dass sie natürlich weniger kostenintensiv war als eine Präsenzveranstaltung.“

 

Die Lindauer Psychotherapiewochen
sind eine Fachtagung für psychotherapeutische Fortbildung, die sich in erster Linie an Ärztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten richtet. Der erste „Psychotherapiekurs“ fand 1950 in Lindau statt. Träger und Veranstalter ist die Vereinigung für psychotherapeutische Fort- und Weiterbildung e. V. mit Sitz in München. Zur Wissenschaftlichen Leitung gehören neben Prof. Dr. Henningsen Prof. Dr. med. Dr. phil. Dorothea Huber (München und Berlin) sowie Prof. Dr. phil. Cord Benecke (Kassel).

 

© Hari Pulko | Lindau Tourismus

Glauben Sie, dass sich die Menschen den Besuch solcher Tagungen künftig sparen werden und nur noch virtuell teilnehmen?

„Nein. Wir möchten, dass die Leute auch weiterhin hierher nach Lindau kommen und sich miteinander austauschen. Allerdings werden wir das Angebot einer hybriden Veranstaltung beibehalten. Für viele Interessenten ist es aus beruflichen oder privaten Gründen nicht ohne weiteres möglich, vor Ort zu sein. Es ist mit dem Alltag immer weniger vereinbar, sich für eine Woche einfach mal zu verabschieden. Deshalb werden wir ein Teilangebot beibehalten, das man rein online nutzen kann. Wir haben schon länger das Ziel, vermehrt jüngere Teilnehmende zu gewinnen. Nicht nur für diese ist das in vielerlei Hinsicht interessant.“

Insgesamt dauern die LP sogar zwei Wochen. Warum steht eigentlich jede Woche im Zeichen eines eigenen Themas?

„Da muss man ganz in die Anfangszeit zurückschauen. Die LP haben eine mittlerweile über 70-jährige Geschichte. Zunächst tagte man eine Woche lang. Zu den Vorlesungen, die anfänglich den Hauptteil der Veranstaltungen ausmachten, kamen immer mehr spezielle Seminare und ergänzende Übungen hinzu, sodass man dann bald eine zweite Woche miteinplante. Irgendwann wurden diese beiden Wochen dann sozusagen gleichgesetzt, mit einem jeweils vollwertigen Programm.“

 

Sie wählen die Themen nach Relevanz und Dringlichkeit in der Psychotherapie aus. Mit den Themen „Geschlecht“ und Verantwortung“ haben Sie darüber hinaus nicht zum ersten Mal den Nerv der Zeit getroffen, wie man so schön sagt.

„Das ist immer auch ein bisschen Glückssache. Die jeweiligen Themen werden spätestens ein Jahr im Voraus verbindlich gesetzt. Das Thema ‚Geschlecht‘ stand bei unseren Überlegungen schon länger im Raum. Die Themenwoche zur Verantwortung hat sich tatsächlich aus dem aktuellen Kontext ergeben – Verantwortung für sich und andere im Zeichen der Pandemie, aber auch im Umgang mit dem Klimawandel zum Beispiel.“

Wie verteilen sich die Teilnehmenden auf die zwei thematisch unterschiedlichen Wochen?

„Rund 90 Prozent kommen lediglich für eine der beiden Wochen, weil eben das jeweilige Thema für sie einen Schwerpunkt bildet. Aber wie bereits erwähnt, spielen da auch andere Kriterien eine Rolle: Bekomme ich Urlaub, damit ich teilnehmen kann oder sind Ferien und ich muss eine Betreuung für meine Kinder organisieren, damit ich nach Lindau fahren kann? Für uns ist es daher immer spannend zu sehen, wie sich das Interesse auf die Themenwochen verteilt.“

 

© Hari Pulko | Lindau Tourismus

 

Die LP sind eine bedeutende Fortbildungstagung im deutschsprachigen Raum. Da liegt Lindau als Veranstaltungsort im Dreiländereck geradezu ideal. Trotzdem: Hat es Sie nie woanders hingezogen, zum Beispiel in eine Großstadt mit Flughafen?

„Im Gegenteil. Wir wollen und werden unbedingt in Lindau bleiben. Die Stadt ist einmalig. Wer einmal da war, weiß das. Für viele Teilnehmende ist Lindau inzwischen nicht nur ein Veranstaltungsort – sondern einer, an dem sie anschließend auch Urlaub machen können. Man kann es ja kombinieren: Am Vormittag besucht man seine Veranstaltungen und den Rest des Tages genießt man den Aufenthalt am See. Natürlich braucht man da auch etwas Selbstdisziplin. Aber unsere Teilnehmenden bekommen das gut hin.“

Sie gehören dem Leitungsgremium der LP seit 2011 an. Wie beurteilen Sie die langjährige Zusammenarbeit mit der Lindau Tourismus und Kongress GmbH?

„Die Zusammenarbeit mit Carsten Holz, Domenica Cataldo und dem Team der Inselhalle funktioniert exzellent. Wir sind extrem zufrieden. Dass wir so gut miteinander können, hat sich während der Pandemie wieder einmal bewährt. Aber auch in der Vergangenheit, zum Beispiel während der Sanierung der Inselhalle vor ein paar Jahren, haben wir von diesem stabilen Miteinander profitiert.“

 

© Peter Henningsen

Sie sind hauptberuflich in München tätig. Aber es scheint fast so, als ob Ihr Herz zuerst für Lindau schlägt?

„Das Büro unseres Vereins ist in München, da lässt sich mein Engagement gut mit meiner Tätigkeit an der TU verbinden. Die LP im April sind immer eine intensive Zeit, die einen mit dem Ort stark verbindet. Aber in meinem Fall ist die Beziehung doch besonders.“

Inwiefern?

„Mein Sohn wurde 2013 in Lindau geboren. Meine Frau ist selbst Psychotherapeutin und nahm daher aus beruflichen Gründen teil. Wir wussten damals, dass die Geburt bald ansteht. Eigentlich hätte sich das noch ausgehen sollen. Aber dann war mein Sohn etwas zu früh dran und so kam er nicht zuhause in München, sondern hier in Lindau gesund zu Welt. Darum ist es unserem Sohn auch ganz wichtig, dass er immer mal wieder hierherkommt an den Ort seiner Geburt.“

 

Prof. Dr. Peter Henningsen
leitet seit 2005 die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Technischen Universität München. Von 2010 bis 2019 war er dort zudem Dekan der Medizinischen Fakultät. 1998 nahm er erstmals an den Lindauer Psychotherapiewochen teil und war regelmäßig als Referent zu Gast, ehe er 2011 in das Wissenschaftliche Leitungsgremium berufen wurde. Zu seinen Zielen zählt er, die LP noch attraktiver für jüngere Teilnehmende zu machen und offener zu sein für unterschiedliche wissenschaftlich basierte Therapieverfahren. „Das könnte in der Psychotherapie noch etwas vielfältiger sein. Aber deshalb arbeiten wir auch daran.“