„Das könnten wir in Berlin so nicht erreichen“
Buchstäblich seit Jahrzehnten kommt die Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie (IGT) in Lindau zusammen. 2021 fand die jährliche Herbsttagung schon zum zweiten Mal unter Pandemie-Bedingungen statt. Wie anregend, intensiv und erfolgreich man dennoch zusammenkommen kann, hat uns Konstantin Rößler, Vorstandsvorsitzender der IGT, berichtet – und wie lange so ein Tagungstag doch sein kann, auch.
AUF DEM WEG
Eine internationale Tagung mit mehreren hundert Teilnehmenden zu organisieren, ist immer eine Herausforderung. Unter Pandemiebedingungen erst recht. „Hier gebührt Carsten Holz und seinem Team ein großes Lob“, betont Rößler gleich zu Beginn. „In diesen schwierigen und unsicheren Zeiten hat man seitens der Inselhalle alles getan, um uns entgegenzukommen.“
Im Jahr davor, dem ersten Corona-Jahr, fand die Herbsttagung der IGT ausschließlich online statt. Angesichts dieser Erfahrungen entschied man sich damals bereits für das Thema 2021: Leibhaftigkeit. „Das war natürlich ein Risiko“, so Rößler. „Stellen Sie sich vor, man setzt solch ein Thema und möchte sich interdisziplinär damit auseinandersetzen – und dann muss die Tagung online stattfinden, ganz ohne Präsenz!“
AUCH EIN TAGUNGSTAG BEGINNT MIT EINEM FRÜHSTÜCK
Dazu kam es glücklicherweise nicht. Die Erleichterung ist ihm noch immer anzumerken: „Wenn ich an die dynamische Entwicklung im Herbst denke, da hätte es kurzfristig noch eine Absage geben können.“ Rund 400 TeilnehmerInnen kamen schließlich nach Lindau, weitere 180 nahmen online teil. Dementsprechend waren die Tage in Lindau für den gesamten Vorstand der IGT natürlich „randvoll“, wie man so schön sagt.
Nach einem kurzen Frühstück ist Rößler früh morgens meist schon in der Inselhalle. „Es gibt immer etwas zu klären. Die notwendigen Vorgaben und Regeln wurden von den allermeisten gut angenommen. Manche TeilnehmerInnen hatten Probleme mit den Einschränkungen oder waren verunsichert. Damit muss man rechnen. Aber gemessen daran, wie die Corona-Maßnahmen gesamtgesellschaftlich diskutiert werden, ist es vernachlässigbar wenig gewesen.“
LEIBHAFTIGE BEGEGNUNGEN
Rößler und seinen VorstandskollegInnen ist es ein Anliegen, die Vorträge am Vormittag zum Teil selbst zu moderieren und die ReferentInnen ihrem Publikum vorzustellen. Außerdem gibt es morgens eine thematische „Einstimmung“ in den jeweiligen Tag. Dabei zeigte sich die Relevanz des Tagungsthemas bei jeder Gelegenheit: „Die Leute sind langsam online-müde. Für uns Menschen ist es eben wichtig, dass wir uns auch leibhaftig begegnen können. Das hat eine andere emotionale Qualität als am Bildschirm.“
Viele seien regelrecht dankbar dafür gewesen, dass man sich nicht für eine reine Online-Veranstaltung entschieden habe. „Und wir sind es auch“, ergänzt Rößler. Die vielen zufälligen Begegnungen, der spontane Austausch während einer Pause bei einer Tasse Kaffee – diese Aspekte seien wertvoll und online so nicht zu bekommen.„Ich will die zoom-Kacheln aber gar nicht schlechtreden. Wir waren 2020 erstaunt, was an Austausch und Miteinander damit möglich war.“ Außerdem habe das Hybrid-Format in diesem Jahr auch vielen Personen die Teilnahme ermöglicht, die aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie kleine Kinder zu betreuen haben nicht selbst nach Lindau kommen konnten. Die verlässliche technische Ausstattung der Inselhalle sei dabei eine wichtige Voraussetzung gewesen.
Die Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie (IGT) wurde im Jahr 1949 unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges gegründet. Das ursprüngliche Anliegen bestand darin, aus Sorge um die Seele der Menschen, neue Werte und eine neue Ethik in das ärztliche und psychotherapeutische Handeln aufzunehmen. Heute widmet sich die IGT der wissenschaftlichen Erforschung der seelischen Kräfte des Menschen und deren Zusammenspiel in der Gesellschaft und betont dabei einen interdisziplinären Austausch und Diskurs.
MITTAGSPAUSEN SIND ARBEITSZEIT
Den Mittag nutzt der Vorstand, um sich über Aktuelles auszutauschen. Außerdem ist ein gemeinsames Essen für die ModeratorInnen eine gute Gelegenheit, um die ReferentInnen, deren Seminare sie moderieren, näher kennenzulernen. Dass es mit den persönlichen Begegnungen so gut klappt, sieht man bei der IGT als klaren Pluspunkt für den Tagungsort. „Unsere Herbsttagung und Lindau – das gehört seit vielen Jahren einfach zusammen“, so Rößler.
Zwar seien die Anbindung und die Lage ganz im Süden der Republik gerade für internationale Gäste auch ein Nachteil. „Die meisten nehmen die Anreise aber gerne in Kauf. Außerdem ist für uns bedeutend, dass die Insel etwas Geschlossenes hat. Wir erleben Lindau als sehr familiär, was ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl schafft. Ein solch intensives Miteinander würden wir in Frankfurt oder Berlin nicht erreichen können.“
SEELEN UND KÖRPER: INTENSIVES PROGRAMM AM NACHMITTAG
Intensiv geht es für Rößler dann auch in die zweite Tageshälfte: „Nachmittags finden die Kurse und Seminare, teilweise mit Selbsterfahrungsanteilen, statt. Das sind mit Blick auf unsere Themen mitunter sehr tief gehende Erlebnisse, die auch die Bereitschaft erfordern, sich darauf einzulassen.“ Intensiv ist auch die zeitliche Planung. Das Angebot soll der Vielzahl an unterschiedlichen Ansätzen gerecht werden; das Tagungsprogramm endet erst um 18.45 Uhr. Nach einem wiederum kurzen Abendessen stehen außerdem Veranstaltungen an. Zum Auftakt am Sonntagabend findet jeweils eine Sonderveranstaltung statt, in diesem Jahr mit dem Titel „Rhythmus und Percussion. Montags dann ein Konzert, das von der Stadt Lindau angeboten wird. Außerdem wird die Mitgliederversammlung der IGT im Rahmen der Tagung abgehalten. Die einzige Ausnahme dieses Mal: „Zum Abschluss ist immer ein großer Tanzabend angesetzt. Auch das ein wichtiger Termin – und ein sehr schöner obendrein“, so Rößler. Aber der war angesichts der Regelungen diesmal einfach nicht drin.
WÄHREND DER TAGUNG IST SCHON WIEDER VOR DER TAGUNG
Spätabends geht dann auch der Tag für den Vorstand zu Ende. Wobei: „Vor dem Zubettgehen bereite ich meistens noch meine Texte für den nächsten Tag vor. Da ist vorher einfach keine Zeit für. Anschließend schläft man ein wenig und dann beginnt auch schon der nächste Tag.“ Von Erschöpfung ist in Rößlers Schilderungen aber wenig zu hören. „Auch wenn ich viel zu tun habe, empfinde ich unsere Herbsttagung weniger als erschöpfend, sondern als anregend und bereichernd. Ich jedenfalls gehe energiegeladen daraus hervor.“
Kein Wunder also, dass Rößler bereits an die nächste Herbsttagung denkt. Das Thema wird meist schon während der jeweils aktuellen Tagung entwickelt. Aus gutem Grund plant die IGT wieder eine Hybrid-Veranstaltung. „Man muss in dieser Zeit eben ständig mit dem Unerwarteten rechnen. Trotzdem habe ich mir ein Hölderlin-Zitat, das auf der diesjährigen Tagung mehrfach fiel, behalten: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Dr. Konstantin Rößler, Vorstandsvorsitzender der IGT, ist Psychoanalytiker, tiefen-psychologischer Psychotherapeut und Arzt für Innere Medizin. Am C.G. Jung-Institut in Stuttgart ist er als Dozent, Supervisor, Weiterbildungsleiter und Mitglied des Vorstands tätig. Außerdem arbeitet er als Team- und Fall-Supervisor in der Psychiatrie. Rößler lebt in Hagenbach und arbeitet in eigener Praxis in Wörth am Rhein nahe Karlsruhe.